Zurzeit geistert ein Video im Web herum und sorgt für Empörung in der Gamer-Community: Ein TV-Bericht von RTL explosiv zur gamescom 2011, in dem der Sender zwanghaft versucht, einen Zusammenhang zwischen Beziehungsstatus und dem Spielen von Computerspielen herzustellen. Neu ist das bei RTL allerdings nicht …
Köln, 19. August 2011: Eine Reportage-Crew des Privatsenders RTL drängt sich über das zum Bersten gefüllte Messegelände, auf dem gerade die größte bisherige gamescom stattfindet. Ihr Ziel ist es allerdings nicht, über das Event zu berichten. Vielmehr sind die geschulten Jäger von RTL Explosiv auf der Suche nach einzelnen Jugendlichen, um sie nach allen Regeln der Kunst öffentlich vorzuführen. Die eigentlichen Themen der gamescom – Spiele, eSport und Jugendkultur sind nicht Teil des Berichts. Vielmehr gibt RTL sich alle Mühe, die Besucher der Spielemesse ins rechte Licht zu rücken. Für diesen Sender bedeutet das: Gamer sind schwitzende, ungepflegte, abhängige und sozial verwahrloste Jugendliche, die sich in der Pubertät für das PC-Spiel anstelle des Rasierers entschieden haben.
Um diese ausufernde Klischee-Aneinanderreihung auch irgendwie verargumentieren zu können, begleitet RTL die für Gioteck tätige Promotorin Laura über das Messegelände und pickt sich aus den 275.000 Besuchern die passenden Fallbeispiele heraus, die dann einer kompetenten psychologischen Schnellanalyse unterzogen werden. Langhaarige Männer gelten als grundsätzlich ungepflegt, luftige Sommerklamotten bei 30° C im Schatten als Gamer-Einheitslook. Dass alle introvertiert sind, versteht sich von selbst.
Das Fazit: Es besteht offenbar ein Zusammenhang dazwischen, jung und männlich zu sein, die gamescom zu besuchen und keine Freundin zu haben.
Dass bei derart selektivem „Journalismus” eine Empörungswelle durch das Web schwappt, ist nicht weiter verwunderlich. Ebenso wenig verwunderlich ist aber das merkwürdige journalistische Selbstverständnis von RTL. Stigma-videospiele.de kritisiert zurecht die im Web aufkochende Frage nach dem Niveau, denn daran mangelt es dem Privatsender nicht erst seit der gamescom. Die öffentlich zelebrierte Diffamierung von Minderheiten und Subkulturen gehört bei RTL zum Geschäftsmodell und das mussten auch schon andere Veranstaltungen zu spüren bekommen.
Die FedCon beispielsweise ist die größte europäische Convention für Scifi-Fans, zu der regelmäßig um die 5.000 Besucher aus ganz Europa stoßen. Im Gegensatz zur gamescom sind dabei kostümierte Fans nicht die Ausnahme, sondern stellen an manchen Tagen sogar die Mehrheit dar. Auch diese Veranstaltung war für RTL und einige andere Sender ein gefundenes Fressen, um über mehrere Jahre hinweg eine „Freakshow” zu zelebrieren. Dies ging soweit, dass RTL schlussendlich niemand mehr ein Interview geben wollte, da noch auf der Messe neutral formulierte Fragen später nachvertont wurden und somit in ein ganz anderes Licht gerückt wurden. RTL lenkte erst ein, als niemand mehr mit dem Sender sprechen wollte und tatsächlich kam am Ende etwas mit Nachrichtenwert heraus.
Gesellschaftliche Zersetzung
Dennoch sollten derartige Nachrichten nicht als reine Niveaulosigkeit marginalisiert werden, denn bei RTL steckt System dahinter, was mindestens zu Schaden bei den Betroffenen führt, inzwischen sogar zu einem gesamtgesellschaftlichen Schaden.
RTL betreibt eine regelrechte Aneinanderreihung von Nachmittagsformaten, deren einziges Ziel es ist, ein bestimmtes Bild der Unterschicht in der Bevölkerung zu platzieren. Hier kommen ähnliche Methoden wie im gamescom-Bericht zum Einsatz, doch der Sender geht noch einen Schritt weiter: „Scripted Reality” heißen diese Formate. Es wird über die Stilistik versucht, eine möglichst authentische Darstellung zu erzielen, während in Wirklichkeit alles nach Drehbuch abläuft. Nicht selten werden dabei Darsteller mit angedrohten Vertragsstrafen zu Tätigkeiten genötigt, die nicht der Wirklichkeit entsprechen. Während das für die betroffenen Familien im Nachhinein eine öffentliche Schmach bedeutet, trägt RTL maßgeblich zu einem gesellschaftlichen Bruch bei. Gezeichnet wird nämlich in der Regel ein Bild von streitsüchtigen Hartz IV-Familien, deren Versagen auf Alkoholmissbrauch und Faulheit zurückzuführen ist.
Die häufig kritisierte soziale Kälte in Deutschland, etwa Hartz IV, Studiengebühren oder Scoring an Schulen ist nicht etwa eine reine Frage von politischen Positionen, etwa der FDP. Die RTL-Gruppe gehört zum Medienkonzern Bertelsmann, der es sich zum Ziel gesetzt hat, radikales neoliberales Gedankengut an den Parlamenten vorbei in der Öffentlichkeit zu platzieren. Der Verlag wird daher von vielen als Gefahr für die Demokratie angesehen, daher ist es äußerst gefährlich, die Methodik von RTL als Niveaulosigkeit zu marginalisieren.
Eine Chance für Öffentlich-Rechtliche
Kurios an dem Beitrag bleibt jedoch eines: Während öffentlich-rechtliche Sender lange Zeit als „unhip“ galten und Privatsender den Nerv der Jugendkultur trafen, gerät, durch Berichte wie diesen, das lange Jahre aufrecht erhaltene Bild ins Wanken.
Während RTL es sich mit den Gamern verscherzt, tritt derzeit gerade ein Sender in den Vordergrund, der sich in der Vergangenheit nicht gerade durch differenzierte Berichterstattung zu Spielen hervor getan hat: Das ZDF übertrug, wenn auch auf seinem Kulturkanal, ganze drei Stunden des ESL-Saisonauftakts auf der gamescom mit sachkompetenten Kommentaren und plant bereits, das Format auszudehnen.
Währenddessen kämpft RTL gegen den Streisand-Effekt an und bemüht sich, Videos zum eigenen Beitrag auf YouTube zu löschen. Während dies ungefähr so sinnlos ist, wie der Versuch, RTL zu echtem Journalismus zu bewegen, sollte jedem Gamer bei künftigen Berichten über andere Themen klar geworden sein, dass die tendenziöse Berichterstattung einen politischen Zweck verfolgt und nicht etwa nur durch Ignoranz entsteht.