Das Wochenende ist wieder einmal zu schnell vorüber gegangen. Morgens stehe ich wieder in der elends vollen Bahn und höre fremden Leuten zu, was sie denn alles erlebt, verbrochen oder angestellt haben. Hin und wieder aber stechen manche Gespräche aus der Masse hervor, scheinen sie noch so langweilig.
Ich stehe also in einem Abteil des RE4 von Mönchengladbach nach Aachen, wie an jedem Montagmorgen und heute ausnahmsweise einmal pünktlich, und höre einem Studenten zu, der sich über die Haltung seiner Terrarientiere nicht im Reinen ist. Eigentlich nicht weiter interessant für mich, auch wenn ich selbst mehrere Terrarien in Aachen stehen habe. Nach einigen wilden Diskussionen mit seinen Mitreisenden kommt er aber auf das Thema „Ausbruchschutz“ zu sprechen. Ich werde hellhörig und geselle mich zu der Gesprächsrunde, da ich etwas vermute. Mein Instikt liegt richtig und ich erfahre, dass er, genau wie ich, Halter einer Ameisenkolonie ist und er sich mehrfach Gedanken darüber gemacht hat, welche Ausbruchsicherungen er denn an sein neues Formicarium (so nennt man die Terrarien für Ameisen) anbringen sollte. Bis zum aktuellen Zeitpunkt nutzt er noch dickflüssiges Paraffinöl für die Formicarienränder, auf dem die Ameisen keine Haltung finden und immer wieder in den Glaskubus zurückstürzen. Jedoch hat er aus Foren erfahren, dass Talkum, ein weißes kalkartiges und trockenes Pulver, genauso gut vor einen Ausbruch schützen soll, wie es das Paraffinöl auch tun würde. Hier aber ohne den öligen und schmierigen Nebeneffekt. Ich selbst nutze für meine Formicarien eigentlich nur einfaches Speiseöl, da mir Paraffinöl einfach zu teuer ist und das Anbringen von Talkum zu viel Arbeit erscheint. Wir diskutieren weiter, über die Haltungsbedingungen die für die Tiere am idealsten sind. Vor allem warme und dunkle Orte scheinen für ein Ameisennest ideale Bedingungen zu sein. Wir sprechen über die Luftfeuchtigkeit und die Ameisenart, die wir in unserer Terraristik ausgesucht haben um diese zu pflegen.
In einer weiteren informativen Diskussion über das Pro und Kontra jeweiliger Ausbruchsperren bemerken wir fast gar nicht, dass wir schon in Aachen angekommen sind. Ich wünsche ihm viel Glück und Erfolg bei der Verwirklichung der neuen Ausbruchsperre und begebe mich zu meiner Wohnung. Und nun kommt das Schicksal mit großen Schritten und viel Getöse auf mich zu. Ich bemerke, dass auf dem Boden in meinem Zimmer etliche Ameisen herumwandern. Es darf doch nicht wahr sein, denke ich. Ich habe doch meine Formicarien vor einem möglichen G.A.U. (Größtes Ausbruchsunglück) geschützt. Noch letzten Freitag hatte ich meine Beckenränder mit einer großflächigen dünnen Schicht aus Öl und Vaseline bestrichen. Mehrere Tests hatten mir zumindest immer bestätigt, dass keine Ameise diese Barrierre überwinden konnte. Ich haste in die Küche, um mir einen Überblick zu verschaffen in wieweit das Ausmaß des Ausbruchs fortgeschritten war. Mir stockt der Atem. Überall in der WG sind Ameisen. Ich kann es nicht fassen. Noch am Sonntagmittag hatte ich einen Anruf von Daniel verpasst, der mir aller Wahrscheinlichkeit nach mitteilen wollte, dass in der WG eine Invasion begonnen hatte. Ich klopf Daniel aus dem Bett um weitere Details zu erfahren. Verschlafen teilt er mir mit, dass er die ersten Ameisen am Sonntagmorgen entdeckt hatte. Als er dann Mittags im Badezimmer bemerkte, dass eine Ameise im Waschbecken herumlief, war für ihn der Tag erstmal gegessen.
Kurzum ergreife ich die Initiative. Ich bewappne mich mit einer Fliegenklatsche und versuche zunächst Herr der Lage zu werden. Doch die Invasion schreitet voran. Ich werfe den Plan wieder über den Haufen und bereite mehrere Ladungen kochendes Wasser vor, die ich für den Fall der Fälle einsetzen wollte und mache mich daran, meine Kolonie im Formicarium zu vernichten. Nach einer Stunde ist der Massenmord erledigt. Schweren Herzens stelle ich fest, dass ich alle Ameisen in meinen Formicarien umgebracht habe. Es macht mich traurig, aber die Konsequenz hatte ich Daniel schon einmal Versprochen, als vor gut einem Jahr 10 Ameisen aus meiner Haltung geflohen waren. Doch die Arbeit ist noch nicht erledigt. Mit Staubsauger und Fliegenklatsche mache ich mich daran, die verbliebenen Ameisen in der WG zu jagen. Nach einer halben Stunde finde ich in der WG keine mehr, doch in meinem Zimmer laufen wieder einige umher. Nach intensiver Suche und mit Erinnerung an das Gespräch mit dem Studenten aus der Bahn, kam ich darauf, wo sie sich versteckten. Mein Rechner lief schon eine ganze Weile und da ich meine Lüfter nur auf Bedarf anschalte, konnte sich ein großer Teil der flüchtigen Ameisen in der Nähe meiner Grafikkarte breitmachen, die natürlich eine ideale Wärmequelle für die Ameisen darstellt. Nichtsdestotrotz stellte ich den Staubsauger ein und verabschiedete mich von den letzten lebenden Ameisen, die ich in meiner WG in Aachen halten werde. Auch wenn ich mit schweren Herzen zurückblicken werde, es war richtig, dass ich den Ausbruch aufhalten musste. Es ging mir dabei um das Wohl der Allgemeinheit, und das war leider nicht mehr gegeben. Jetzt herrscht bei mir Aufklärungsbedarf. Wie konnten die Ameisen entkommen? War ein Leck im Becken oder hatten die Schläuche, die meine beiden Formicarien verbinden, etwa eine undichte Stelle. Ich kann nichts dergleichen feststellen und werde leider ohne eine Antwort zurückbleiben. Tina hat mir in einem Telefonat geraten, mein Zimmer in Zukunft abzuschließen. Man weiß ja nie, wer sich in mein Zimmer begibt und dort etwas anrichtet. Die Vermutung der Manipulation liegt zwar nahe, ich möchte aber zunächst keinen Gedanken daran verschwenden. Ich benutze ja auch schließlich keinen Körperscanner, bevor ich meine Mitbewohner in mein Zimmer hineingehen lasse. Irgendwo liegen halt immer die Prioritäten.